Fast 20 Jahre Italien, eine Bilanz

Ein gutes Jobangebot hat mich 2001 nach Italien gebracht, keine reale oder erhoffte italienische Romanze, sondern eine gut dotierte Position bei einer der UN-Organisationen in Rom. Damals war ich knapp 36 Jahre alt und hatte zwei kleine Kinder, Tom und Philippa, im Schlepptau. Wir kamen nicht aus Deutschland, sondern über England, Schottland und nach einem Aufenthalt in Ghana nach Rom. Nun schreibt es 2020, bin ich 54 Jahre alt und lebe immer noch in Rom, in meinem geliebten Stadtteil Trastevere. Meine Kinder sind mittlerweile 21 und 22 Jahre alt, studieren im Ausland (den Niederlanden und England) und Rom ist für uns unsere „Heimat“.

Wie sieht nun meine Bilanz meiner Jahre in Rom aus, was wäre anders gewesen, wenn ich doch nach Deutschland zurückgekehrt wäre? Eine Frage, die sich nicht so einfach beantworten läßt: das Leben besteht aus Zufällen und läßt sich nicht planen, so daß die Frage „was wäre, hätte ich …“ mir relativ unwichtig erscheint. Eine Frage, über die ich mir noch nie Gedanken gemacht habe, da ja jede Antwort nur hypothetisch ist. Entscheidungen sind getroffen, wir können die Vergangenheit nicht zurückdrehen. Wir können nur unsere Entscheidungen akzeptieren und mit ihnen leben.

Eine Frage, die vielleicht unterschwellig bewerten will, was besser ist, Deutschland oder Italien? Eine Frage, die vielleicht auch melancholisch ist, habe ich da einen Fehler begangen, daß ich nicht in meiner „Heimat“ geblieben bin? Eine Frage nach der eigenen Persönlichkeit, wie bin ich, was ist mir wichtig, was macht mich glücklich? Bin ich positiv, flexibel, offen für das Neue, das Andere. Macht es mir Spaß, jeden Tag was neues zu erleben, oder suche ich das Vertraute, das Beständige? Fühle ich mich wohl, immer Ausländerin zu sein?

Auch eine Frage des Bewertens, denn Bilanzen erhalten ja auch immer Werte oder Preise und Gewichtungen und diese sind für Lebensbilanzen oder Lebensabschnittsbilanzen doch völlig persönlich.

Wie beantworte ich nun die Frage des Bilanzziehens?

Eigentlich hat sich mir die Frage nie gestellt, da ich schon als Teenager nicht so glücklich in Deutschand war. Ich wollte immer etwas anderes sehen, die Welt erkunden, Neues kennenlernen. Mit 16 Jahren verbrachte ich ein Schuljahr in Vancouver, um so weit wie möglich von meiner Mutter weg zu kommen. Nach dem Studium der Volkswirtschaftlehre in Stuttgart und Kiel zog ich nach England, um dort einen Master in Landwirtschaftlicher Entwicklung in Übersee zu machen.

Ich hatte niemals den Wunsch, nach Deutschland zurückzukehren. Ich wollte auch nie zurück auf die grüne Insel England. Der Zufall brachte mich dann 1995 nach Ghana, um in der Lebensmittelindustrie zu arbeiten, ein sehr prägendes Erlebnis. Welche Armut, aber was für eine Aufrichtigkeit, Offenheit und Genügsamkeit der Menschen.

Vielleicht ist ein guter Anfang des Bilanzziehens ein sehr prägenden Satz eines 20 Jahre älteren, griechischen Freundes. Hari sagte mir vor langer Zeit, daß es keinen Sinn machte, Menschen oder Orte zu vergleichen.

“Erfreue Dich an den positiven Seiten und lebe mit den negativen Seiten”.

Was jeder von uns als positiv oder negativ ansieht, ist natürlich höchstpersönlich. Eine ähnliche Weisheit ist, daß man Menschen nicht ändern kann, sondern nur seine Haltung ihnen gegenüber ändern kann.

Auf italienisch wäre der Anfang auf die Antwort die Frage des Bilanzziehens „dipende“ oder auf Deutsch, „es hängt davon ab“. Aber wovon hängt es ab? Es hängt von der eigenen Anschauungsweise ab: Wie „bewerte“ ich Dinge, die mir fremd sind, die ich als anders empfinde, die mir so ungewohnt sind, die ich einfach nicht verstehe? Sind Dinge, die mir fremd sind, eine Last?

Oder sind Dinge, die anders sind als ich es gewohnt bin, eine Bereicherung, nicht materiell sondern des Immateriellen? Vielleicht eine Bereicherung meiner Seele, da ich immer wieder lernen muss, das man alles auch von einer anderen Seite betrachten kann? Das es kein Normalsein gibt, keine Norm, sondern, daß man alles auch aus einem anderen Licht betrachten kann und anders angehen lassen kann.

Ich persönlich sehe es als Bereicherung an, nicht in meiner „Heimat“ zu leben. Ich sehe es als eine Bereicherung an, seit fast 30 Jahren Ausländerin zu sein, jemand, der nicht so aussieht wie die Einheimischen, den man nicht so einordnen und vielleicht nicht einschätzen kann.

Mir gefällt die Lebensart der Römer, fast immer draußen zu leben, Kaffee in der Bar zu trinken, kommunikativ, passioniert, gesellig und oft anarchisch zu sein. Auch einmal herumschreien zu dürfen, wenn einem etwas zu viel geworden ist.

Ich bin froh, dass meine Kinder in einem Land aufgewachsen sind, wo sie willkommen geheißen werden, wo sie auch Krach machen dürfen und auch nach Mitternacht auf der Straße toben können , wo sie einfach geliebt worden sind. Und wo ich als Mutter zur „Signora“ aufgestiegen bin und mir gesagt wurde, „Che belli biondi, complimenti Signora“. Wo uns ein älterer Herr an der Straßenbahnhaltestelle schützend unter seinen Regenschirm zog, als da plötzlich zwei Regentropfen vom Himmel fielen.

Und natürlich bin ich froh darüber, dass meine Kinder mit 3 Sprachen aufgewachsen sind und noch wichtiger, sich in 3 verschiedenen Kulturkreisen zuhause fühlen. Dass sie einen großen Freundeskreis haben und viel mit ihren Freunden in größeren Kreisen zusammen sind.

Mein Sohn Tom hat es neulich sehr passend zusammengefasst: „Mami, das ist so: Die Nordeuropäer drücken ihr Herz immer weg, sie verstecken es irgendwo und ich weiß nicht, wie sie das machen. Aber den Römern springt das Herz immer aus dem Brustkorb heraus und es lässt sich schwer einfangen und kontrollieren.“

Vielleicht ist es das, was mir hier so gut gefällt …

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