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Eine schrecklich nette Familie

Italiener und Deutsche im gemeinsamen Haus Europa
Von Golo Maurer

Wir in Europa sind eine große Familie und leben alle zusammen im gemeinsamen Haus Europa. Ich weiß, Familie ist nicht jedermanns Sache und das Zusammenleben mit einer solchen erst recht nicht. Aber es hat sich halt so ergeben und so ist es jetzt.

Man muss ja auch nicht bei den Eltern wohnen bleiben. Ich zum Beispiel bin vor vielen Jahren ausgezogen und wohne nun bei den Italienern. Am Anfang dachte ich, da fest dazuzugehören. War aber nicht so. Natürlich ist man nett zu mir, zumindest, solange ich die Miete bezahle. Aber ich bin der Deutsche vom 8. Stock und werde das bleiben, bis ich ins Gras beiße.

Wenn ich „wir“ sage, meine ich übrigens immer noch uns, also uns Deutsche vom 8. Stock des gemeinsamen Hauses, nach so vielen Jahren. So ist das.

Die Italiener wohnen recht hübsch im Hochparterre mit großem Balkon, wo sie an Sommerabenden gerne grillen, obwohl das per Hausordnung verboten ist. Warum ich runtergezogen bin? Keine Ahnung, vielleicht war es der Duft des verbotenen Grillfleischs, der den Ausschlag gab.

Das Faszinierende an solchen Hausgemeinschaften ist das Auseinanderleben durch Zusammenleben.

Das bekomme ich jetzt aus der ganz neuen Perspektive des Hochparterres mit, sehr interessant, sage ich Ihnen. Die etwas Älteren dort erinnern sich noch gut an den bösen Onkel Schäuble, den die Deutschen damals als Hausmeister durchgedrückt haben. Hatte ich längst vergessen. Der hauste dann in der Hausmeisterloge und ließ sich von den Italienern und Griechen beim Heimkommen die Einkaufstüten zeigen. Und wehe, wenn er dort teuren Parmesan, Trüffel und Franciacorta entdeckte. Pinkelwurst und Dosenbier – das lob ich mir! schrie er dann durchs Treppenhaus. Es ist wahr, dass die so Gescholtenen oft eine Rate bei den Hausnebenkosten hinterher waren. Aber das Schreien war dann doch unfein (maleducato).

Man hat es nicht vergessen im Hochparterre.

Als leicht unangenehm empfand man offenbar auch die Erbtante Angela, die ständig Zettel im Eingang aufhängte, mit Hinweisen auf die Hausordnung, etwa das Verbot betreffend, Schuhe und Mülltüten vor die Wohnungstür zu stellen. Immer mit Ausrufungszeichen und ohne Bitte und Danke. Schuhe abstreifen! Kam auch nicht so gut an.

Im Flur hatte sie der alte Nonno Silvio vom Hochparterre dann einmal als culona inchiavabile bezeichnet, als „unaufsperrbaren Fettarsch“, was immer das heißen sollte. Hat für große Heiterkeit gesorgt am italienischen Küchentisch. Wir im achten Stock haben versucht, es nicht ernst zu nehmen, wie wir die vom Hochparterre ohnehin nie so ganz ernst genommen haben, am wenigsten Nonno Silvio, von dem es hieß, dass er den Putzfrauen und Kindermädchen unter die Röcke greift. Undenkbar bei uns. Tante Angela hat sich freilich gerächt und gemeinsam mit Onkel Nicolas bei der Eigentümerversammlung berichtet, dass der alte Silvio nachts in den Vorgarten pinkelt, vom Balkon aus. Das war dann auch denen im Hochparterre peinlich. Silvio verschwand von der Bildfläche.

Onkel Nicolas? Das war der von den Franzosen, die noch über den Deutschen im 9. Stock wohnen mit Terrasse und einem tollen Marmorbad, das seit einiger Zeit leider undicht ist. Großes Problem. Von Nicolas habe ich gerade heute gehört, dass er ins Gefängnis verbracht wurde wegen irgendeiner alten Geschichte. Nicht zu fassen. Das hätten wir eher von Nonno Silvio vermutet. Undenkbar bei uns.

Ja, das undichte Franzosen-Bad. Onkel Friedrich ruft einmal am Tag beim Neffen Emanuel an, der verspricht, bei sich alles ganz neu und modern zu machen, große Pläne. Geschehen ist nichts. Nun gut, bis das Wasser zu den Italienern ins Hochparterre kommt, dauert es noch eine Weile, da ist man ganz entspannt.

Die Franzosen – auch so ein Thema hier. Sie bilden sich ein, etwas Besseres zu sein. So wie die Deutschen, nur anders. Man wurde noch nie eingeladen zur Terrassen-Party am 14. Juli. Die Deutschen sitzen ständig dort oben, bringen ihr Dosenbier und die Pinkelwurst mit und lästern mit den Franzosen über die Italiener. Während es bei den Deutschen reintropft. Von den Franzosen.

Im Hochparterre erzählt man sich neuerdings, dass bei uns im 8. Stock die Miele-Waschmaschine ständig kaputt sei. Eigentlich undenkbar. Man erzählt das mit leiser Befriedigung, denn wir haben immer etwas angegeben mit dem guten Ding. Sie war unser ganzer Stolz. Onkel Salvini, der auch hier wohnt, freut sich ganz offen darüber, seine blondierte Schwester Giorgia nur heimlich.

Salvini regt sich übrigens ständig auf über die Deutschen und ihre Hausordnung (die von den Italienern damals freilich mitbeschlossen wurde). Dann behauptet er, dass die Italiener den Aufzug für die Deutschen bezahlen würden. Das stimmt natürlich nicht, denn die Italiener zahlen nur ganz wenig, eben weil sie im Hochparterre wohnen. Richtig aber ist, dass die Deutschen mehr zahlen müssten, als sie tun, nach Stockwerken gerechnet. Ein bisschen Recht hat er also, der Salvini, aber nur ein bisschen. Des Abends sitzt der am Küchentisch und schwingt große Reden. Er werde denen da oben das Wasser im Keller abdrehen und den Aufzug blockieren. Viel Spaß beim Treppenlaufen! Großes Gejohle allenthalben. Giorgia lächelt leise und lässt ihn machen. Getan hat er es aber dann doch nie.

Vielleicht hat er Schiss vor Tante Ursula, der Hausverwalterin. Die kommt ursprünglich auch vom 8. Stock. Vielleicht fürchtet er aber auch, dass dann rauskommt, dass er und sie Seinen gerne zu sechst in den Aufzug steigen, der laut Hausordnung auf 250 kg Maximal-Last ausgelegt ist. Natürlich könnten die Italiener die paar Stufen zum Hochparterre auch zu Fuß gehen. Sie fahren trotzdem mit dem Aufzug, zu sechst, obschon verboten. Vär-bo-tän! Das haben sie inzwischen gelernt, also das Wort. Und tun es trotzdem. Unter uns: auch ich fahre da manchmal mit, als Siebter, das rechte Knie …

Sie sehen, leicht anstrengend unser Haus Europa.

Wie sagte Großväterchen Stalin vom Nachbarblock früher so schön: Keine Nachbarn, keine Probleme. Das war ein Typ, sage ich Ihnen. Von Großvater Adolf (8. Stock) erzähle ich Ihnen ein andermal.

Es ist im Grunde ein sehr schönes Haus, in dem wir wohnen, eigentlich das schönste der ganzen Anlage, guter Architekt, gute Materialien. Aber es wurde lange nichts mehr daran gemacht, und das merkt man.

Auch bei den Italienern tropft es, und zwar schon immer. Nur haben die nie was gesagt. Als ich dort eingezogen bin, habe ich mich über die vielen Eimer gewundert, die hier überall herumstehen und wo es hineintropft. Pazienza, sagte man mir, nicht so schlimm, wir wissen auch nicht so genau, wo das herkommt. Ich war sprachlos. Und da tut ihr nichts? Das muss man doch lösen! Dann dachte ich an die Wutanfälle von Onkel Friedrich, der jeden Tag bei Emanuel anruft, und es tropft trotzdem immer weiter. Besser, er würde mal ein paar Eimer kaufen.

Auch gibt es in diesem Haus viel zu wenig Badezimmer. Das war nicht so wichtig damals, als das Haus gebaut wurde. Ich erinnere mich noch gut an den Stress, den wir im 8. Stock damit hatten: Duschordnung! Streng getaktet nach Minuten. Kaum saß man zehn Sekunden zu lange auf dem Klo, hämmerte jemand mit der Faust gegen die Tür. Im Hochparterre? Gibt es auch nur ein Badezimmer, aber da kommt kein Wasser mehr aus dem Hahn. Wissen Sie, was die machen? Sie waschen sich in ihren Zimmern am Waschbecken. Das geht, ich habe es gelernt. Man legt ein paar Zeitungen unter, oder, seitdem es kaum mehr Zeitungen gibt, Exemplare der Hausordnung, welche die Deutschen im Treppenhaus auslegen. Alles ganz entspannt.

Aber natürlich müsste man schon die ganzen Leitungen erneuern, auch die Stromleitungen, die sind nicht mehr ganz koscher. Täglich fliegt seit einiger Zeit die Sicherung raus. Schuld sind natürlich die Italiener, sagte neulich Onkel Friedrich, als ich zu Kaffee und Kuchen mal wieder im achten Stock war. Denn die würden in ihren Zimmern mit Tauchsiedern kochen, was streng verboten ist, schon wegen der Brandgefahr. Friedrich sagte das sehr laut, ja fast schrie er, und das war nötig, denn bei den Franzosen oben war Familienkrach. Kommt häufig vor in der letzten Zeit. Sie können sich nicht vorstellen, wie laut das wird. So viel Porzellan muss man erst einmal haben, wie dort zerschlagen wird. Auch das bin ich vom Hochparterre nicht gewöhnt. Dort streitet zwar auch jeder mit jedem, aber die paar Pasta-Teller und Espresso-Tassen, die wir (jetzt sage ich schon „wir“!) haben, die zerschmeißen wir nicht. Kostet ja alles. Das macht mich melancholisch. Wenn sich schon die Franzosen die Teller an die Köpfe werfen, wie sollen wir uns dann in der Eigentümerversammlung aller neun Stockwerke einigen?

Wäre aber dringend nötig, denn inzwischen tropft es auch bei den Franzosen: Das Dach … Vielleicht, denke ich, müssten sich zunächst die drei großen (9. Stock, 8. Stock, Hochparterre) einmal zusammensetzen und die Hausordnung ausmisten. Es ist ja auch verboten, Kinderwägen und Fahrräder im Eingang abzustellen. Sie tun es trotzdem. Die Italiener? Nein, die fahren gar nicht Fahrrad, und Kinder kriegen sie auch keine mehr. Es sind die Deutschen. Vielleicht könnte man sich zunächst auf die Aufhebung des Abstellverbots sowohl von Schuhen als auch von Fahrrädern einigen. Irgendwann nehmen wir dann die Leitungen in Angriff.

Chi va piano, va lontano, sagt man bei uns im Hochparterre, wer langsam geht, kommt weit. Neulich haben sie beim Nachbar-Block (da wo einst Großväterchen Josef gewohnt hat) in Nacht und Nebel eine riesige Baugrube ausgehoben, und zwar auf einem Grundstück, das zu uns gehört, da gibt es ganz klare Dokumente im Grundbuchamt. Eines Morgens war sie plötzlich da. Große Aufregung. Onkel Olaf (lange Geschichte) hat einen Protestbrief nach dem anderen an Väterchen Vladimir (der Enkel von Josef) geschrieben. Ich glaube, der hat sie nicht mal gelesen. Unsere Hausverwaltung (Ursula) hat dann die Zufahrt zum gemeinsamen Parkplatz bei der Wohnanlagen gesperrt, als Repressalie. Aber nur zwischen 8 und 15 Uhr. Auf mehr haben wir uns nicht einigen können, da ja auch wir den Parkplatz brauchen.

Früher hätte man die General-Verwaltung der gesamten Wohnanlage angerufen. Die hätten das sofort geregelt. Aber die interessieren sich irgendwie nicht mehr für uns. Wahrscheinlich haben sie genug von den ständigen Streitereien um den Aufzug und die Schuhe im Gang. Macht euren Kram alleine! Genau das stand in dem Brief der Generalverwaltung, der neulich auf unserer Eigentümerversammlung vorgelesen wurde. Betretenes Schweigen. Ich sag‘s ja: Wir müssen erst mal die Hausordnung ändern.

Vielleicht treffen wir uns bald alle beim Grillen im Hochparterre. Ihr könnt auch Pinkelwurst und Dosenbier mitbringen. Und Schwester Giorgia kennenlernen. Sie ist schrecklich nett.

Golo Maurer (geb. 1971 in München) leitet die Bibliothek des Max-Planck-Instituts für Kunstgeschichte in Rom, der Bibliotheca Hertziana.

Von ihm bereits erschienen:

Heimreisen: Goethe, Italien und die Suche der Deutschen nach sich selbst

Rom: Stadt fürs Leben

Schon vorbestellbar:

Olevano: Als ein paar romantische Aussteiger in Italien die deutsche Kunst erfanden

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Eine Antwort zu „Eine schrecklich nette Familie“

  1. Avatar von Petra
    Petra

    Klasse geschrieben, herrlich „die liebe Familie“

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Kommentare

  1. Guten Tag Frau Neugebauer, Ich habe 2 Kinder [14 und 11] mit meiner Ex-Freundin [Polin].Wir beide leben in Deutschland.Damit haben…

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