Eine Rezension
Davide Longos Roman „Ländliches Requiem“ (Originaltitel: Requiem italiano) ist ein beeindruckend vielschichtiges Werk, das sich mit Erinnerung, Herkunft, Gewalt und dem Wandel einer ganzen Nation auseinandersetzt. Es ist ein Buch, das mehr als nur eine Geschichte erzählt: Es ist ein Abgesang auf eine ländliche Welt, die in Auflösung begriffen ist, und zugleich ein vielstimmiger Chor über das Italien der 1980er Jahre – jene Dekade, die so viel zur Gegenwart des Landes beigetragen hat.
Schon der Titel verweist auf die Tonlage des Buches: Requiem – das ist Trauerlied und Abschied zugleich. Longo gelingt es, diese Stimmung nicht nur zu beschreiben, sondern fast körperlich spürbar zu machen. Es ist ein stilles Buch, das dennoch voller innerer Unruhe ist. Eine literarische Rückkehr zu Wurzeln, in ein ländliches Piemont, das vom Fortschritt überrollt wird und sich kaum zur Wehr setzen kann.
Einfühlsame Milieuschilderung
Eine der großen Stärken des Romans liegt ohne Zweifel in der Gestaltung der Lebenswelten. Longo beschreibt die Landschaften Norditaliens mit einer fast dokumentarischen Präzision, gleichzeitig aber auch mit einer poetischen Kraft, die seinesgleichen sucht. Die bäuerliche Welt, die familiären Strukturen, das Misstrauen gegenüber dem Fremden, die Gewalt, die unter der Oberfläche brodelt – all das wird nicht plakativ erzählt, sondern atmosphärisch verdichtet.
Die Figuren sind dabei keine bloßen Typen, sondern komplexe Charaktere, geprägt von ihrer Umgebung und ihrer Geschichte. Longo lässt ihnen Raum zur Entfaltung, und auch wenn vieles unausgesprochen bleibt, so ist doch gerade das Schweigen ein zentrales erzählerisches Mittel in diesem Roman. Die Vergangenheit ist allgegenwärtig, drängt sich zwischen die Generationen, frisst sich in die Beziehungen und zieht sich wie ein dunkler Schatten durch das ganze Buch.
Die 1980er Jahre als Kulisse und Schlüssel zur Gegenwart
Besonders bemerkenswert ist, wie Longo die 1980er Jahre nicht nur als zeitlichen Hintergrund nutzt, sondern sie auch als politisch und gesellschaftlich bedeutsame Epoche in den Mittelpunkt rückt. Es sind die Jahre nach dem sogenannten Anni di piombo (den „bleiernen Jahren“), in denen Italien zwischen politischen Extremen zerrissen war, in denen linke und rechte Terrorgruppen das Land in Atem hielten, und in denen sich eine neue Form von öffentlichem Leben und Medieninszenierung entwickelte.
Longo zeigt auf eindrucksvolle Weise, wie diese Umbruchszeit selbst in entlegenen ländlichen Gegenden ihre Spuren hinterlassen hat. Die Städte verändern sich, das Fernsehen dringt bis in den letzten Weiler vor, die Sprache wandelt sich, ebenso wie die Vorstellungen von Fortschritt und Freiheit. Doch dieser Wandel bringt nicht nur Hoffnung – er erzeugt auch Desorientierung und Verlorenheit. Viele der Figuren wissen nicht recht, wohin mit sich selbst, zwischen Tradition und Moderne, zwischen Loyalität und Aufbruch.
Das Besondere an Longos Darstellung liegt darin, dass er diese historischen Prozesse nicht analytisch aufbereitet, sondern sie literarisch erfahrbar macht. Man spürt, wie das alte Italien sich auflöst – nicht durch große politische Ereignisse, sondern in Alltagsgesten, in familiären Zerwürfnissen, in den Geräuschen einer sich verändernden Landschaft.
Ein stilles Meisterwerk – mit bleibender Wirkung
„Ländliches Requiem“ ist ein Roman, der nicht nur von Verlust erzählt, sondern auch von Erinnerung – und davon, wie sehr unser Heute vom Gestern geprägt ist. In einer Zeit, in der Europa sich wieder neu sortiert, in der Nationalismus und Regionalismus zurückkehren, liest sich Longos Roman auch als leiser Kommentar zu unserer Gegenwart.
Davide Longo stellt keine einfachen Wahrheiten bereit. Er verzichtet auf moralische Urteile, auf dramatische Zuspitzungen oder billige Nostalgie. Stattdessen bietet er eine vielschichtige, manchmal sperrige, aber stets ehrliche Auseinandersetzung mit dem, was war – und dem, was daraus geworden ist. Sein Requiem ist kein Abgesang auf eine verlorene Welt, sondern ein Nachklang, der noch lange nachhallt.
Fazit
„Ländliches Requiem“ ist ein eindrucksvoll erzählter Roman, der weit über das Persönliche hinausreicht. Er wirft einen irgendwie schmerzhaften Blick auf ein Italien im Übergang, in dem sich die Brüche einer Gesellschaft im ganz Konkreten – in Dörfern, Familien, Beziehungen – zeigen. Wer literarisch dichte, atmosphärische Erzählungen mag, die sich nicht scheuen, unbequeme Wahrheiten auszusprechen, wird an diesem Buch großen Gefallen finden.
Ein Roman, der lange nachwirkt – leise, aber bestimmt. Dieses Buch ist ein Gewinn.
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