Italien-Krimi: „Der Tourist“ von Massimo Carlotto

Gibt es überhaupt eine übergeordnete, staatliche Kontrolle? Gibt es noch eine Staatsraison oder wer zieht eigentlich die Fäden? – – – Wieder ein Krimi aus Italien, und wieder vorgestellt von unseren Freunden von krimirezensionen.de. Viel Spaß beim Lesen!

So hätte die Sache nicht laufen dürfen. Die Male zuvor war es ganz anders gewesen. Die Auserwählten hatten sich gut benommen und keinen Widerstand geleistet, im Gegenteil, vor Entsetzen hatten sie sich ihm unterworfen, und das gefiel ihm besonders gut. […]
Sie öffnete die Augen. Ihr erster Impuls war, sich zu befreien, also rammte sie ihm die Knie in den Rücken, aber ihr Angreifer begann, sie zu würgen. Hasserfüllt starrte sie ihn an, so als hätte sie gar keine Angst, als wäre sie immer und in jedem Moment bereit, um ihr Leben zu kämpfen. Sie versuchte alles, um die Lage zu ihren Gunsten zu wenden, und plötzlich flüsterte sie etwas. Ihm war, als wiederholte sie mehrfach ein und dasselbe Wort, vielleicht einen Namen.
Da wurde dem Mann bewusst, dass er seine Auserwählte fürchtete, ihr gegenüber eine gewisse Befangenheit verspürte, und im Gegensatz zu den anderen Malen hatte er es eilig, sie zu töten. (Auszug Seiten 10-11)

Er ist ein Serienmörder mit perfekter Tarnung. Seine Opfer sucht er zufällig aus, vor allem nach der Exklusivität ihrer Handtasche. Bevorzugt mordet er in Großstädten mit viel Besucherandrang, daher sein Name: „Der Tourist“. Doch das Opfer, dass er sich in Venedig ausgesucht hat, ist anders als sonst und bringt ihn hinterher ganz schön in Bedrängnis. Allerdings nicht mit der Polizei.

Denn der Tourist gerät zwischen die Fronten eines Kampfes von zwei inoffiziellen Geheimdiensteinheiten. Die einen sind ehemalige Agenten, die aus Frustration den Dienst quittiert und sich dem organisierten Verbrechen angedient haben. Diese bemächtigen sich auch des Touristen und glauben, dass dieser ihrer Organisation noch nützlich sein könnte. Auf der anderen Seite stehen Mitglieder von Geheimdienst- und Polizeieinheiten mehrerer Länder, die sich inoffiziell zusammengeschlossen haben, um die Gegenorganisation zu bekämpfen. Als der Tourist ins Spiel kommt, wird der Polizeikommissar außer Dienst Pietro Sambo angeworben. Er ist wegen Bestechlichkeit in Ungnade und danach in eine Lebenskrise gefallen, aber um einen Serienmörder aufzuspüren könnte er der richtige Mann sein.

Autor Massimo Carlotto hat eine interessante Lebensgeschichte. In den 1970ern war er ein Mitglied einer radikalen linken Bewegung. Im Jahr 1976 fand er die Leiche einer ermordeten Studentin und geriet unter Mordverdacht. Zunächst wurde er freigesprochen, dann doch verurteilt. Er war jahrelang im Ausland auf der Flucht, wurde in Mexiko festgenommen, inhaftiert. Es kam zu einer Wiederaufnahme des Verfahrens, 1993 wurde das Urteil schließlich aufgehoben. Anschließend begann er seine schriftstellerische Karriere und ist inzwischen einer der erfolgreichsten Krimiautoren Italiens. In Deutschland wurde er zunächst durch seine Reihe um den „Alligator“, den Privatdetektiv Marco Burrati, bekannt. Seine letzten Veröffentlichungen auf Deutsch waren „Die Marseille-Connection“ und „Am Ende eines öden Tages“.

Serienmörder-Thriller nehme ich eigentlich kaum noch zur Hand. Irgendwie reizt mich das nicht mehr, die Plots sind oft so vorsehbar und an den Haaren herbeigezogen. Doch dieser hier hat mich direkt interessiert. Denn dieser Plot ist wahrlich unkonventionell. Massimo Carlotto nimmt hier die gängigen Genremuster von Serienmörder-Krimis oder Agententhriller überhaupt nicht ernst, sondern spielt mit ihnen und kreiert eine ziemlich abgefahrene Story. Dabei hat er aber durchaus eine Intention, denn irgendwie zerlaufen hier die normalen Strukturen, die Organisationen beider Seiten arbeiten im Verborgenen. Gibt es überhaupt eine übergeordnete, staatliche Kontrolle? Gibt es noch eine Staatsraison oder wer zieht eigentlich die Fäden?

„Das ist gängige Praxis“, hatte ihm der Typ vom italienischen Geheimdienst erklärt. […]
Pietro hatte ihn argwöhnisch gemustert. „Wenn das allgemeine Praxis ist, bedeutet das ja, dass ihr es ebenfalls tut – dass der italienische Staat seinen Angestellten gestattet, Personen zu vergewaltigen.“
Der andere hatte irritiert den Kopf geschüttelt. „Ich weiß wirklich nicht, was ich von dir halten soll, Sambo. Du bist ein guter Mann, aber manchmal scheinst du echt schwer von Begriff zu sein. Der Staat? Wovon zum Teufel redest du da überhaupt?“ (Seite 244)

Zugegeben wurde es mir an einigen Stellen dann doch zu krude, beispielsweise die merkwürdige Figur der Polizeirätin oder die Psychopatin, die dem Touristen plötzlich als kongeniale Partnerin an die Seite gestellt wird. Aber wer mal im ausgelutschten Genre des Serienmörderromans etwas ganz anderes lesen möchte, der findet mit Der Tourist einen ungewöhnlichen, unkonventionellen Genremix, der auf jeden Fall zu unterhalten weiß.

Rezension und Foto von Gunnar Wolters.

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